Neuntausend neunhundert neunundneunzig Kilometer. Mein Blick geht von der Straße weg auf die kontinuierlich weiterlaufende Zahl in mitten der Tachoscheibe. Beide Hände umfassen das Lenkrad am unteren Ende, als würde ich ein zerbrechliches kleines Kätzchen halten, während mein rechter Fuß die Geschwindigkeit kontrolliert. Schalten ist hinfällig, ich bin bereits im fünften Gang. Zwangspause für das linke Bein, das es sich neben dem Kupplungspedal gemütlich macht. Meine Augen wandern wieder auf die Straße vor mir, auf die Ladefläche eines spanischen LKWs. Baumstämme liegen fein säuberlich geschlichtet aufeinander, Stamm an Stamm, und versuchen sich an einander zu klammern. Meine Gedanken schweifen ab und ich erinnere mich an ein Erlebnis in Polen.
Seit sechs Stunden sind wir heute schon unterwegs. Die Hälfte haben wir geschafft und Finn schläft immer noch. „Es ist bereits fünf, lass uns einen Platz für die Nacht suchen“, flüstert Babsi leise von der Rückbank um Finn nicht zu wecken. Die polnische Schnellstraße von Krakau nach Danzig ist überseht von Schlaglöchern und lässt die Stoßdämpfer im Akkord arbeiten. Ich nicke ihr zustimmend zu und denke, wir könnten wohl alle eine Pause brauchen. Hunger macht sich bemerkbar. Wir fahren ab. Die Straße windet sich durch einen dicht bewachsenen Kiefernwald. Baumstämme, wie Zinnsoldaten, so weit das Auge reicht und das Navi führt uns immer weiter gerade daran vorbei. Nicht mehr weit. Vier Kilometer noch, drei Kilometer, zwei, ein einhalb. Und Plötzlich ein Schild, ohne Aufschrift. Einzig allein das verblasste Bild eines Wohnmobiles darauf lässt vermuten, dass es ein Hinweis auf einen Campingplatz sein könnte. Ich ignoriere das Navi, bremse, biege rechts ab und folge dem Pfeil auf eine unbefestigte Straße in den Wald hinein. Es wird dunkel um uns herum. Der Wald wird dichter, die Straße rauer. Wie ein Captain auf hoher See manövriere ich den Bulli über die immer tiefer werdenden, ausgefahrenen Spurrinnen des Waldweges, bis ein dumpfer Schlag mich zum Anhalten zwingt. Was war das? Scheiße nochmal! ……
Gleich ist es soweit. Ich verfolge den Kilometerzähler bei seiner Arbeit mit kurzen, flüchtigen Blicken. In Hundert-Meterschritten zählt er den Countdown hinauf. Ich will den Moment nicht verpassen und schaue kaum noch auf. Nur im Augenwinkel nehme ich den spanischen LKW vor mir wahr, die Enden der gefällten Bäume und versuche die Distanz zu wahren. Die letzten hundert Meter. Ein unscheinbarer Moment nach außen. Nur ich und der Bulli wissen was gerade passiert, die restliche Welt ist Ahnungslos. Zehntausend Kilometer.
…… Ich steige aus, Babsi hinterher, und wir schauen unters Auto. Die Wellen haben mich zu weit nach rechts gezwungen, wo ein Baumstumpf das Ende unseres Weges markiert. Wie ein Eisberg, der sich uns in den Weg stellt, hat er auf der Bodenplatte angeklopft um uns zu sagen, ihr seid am Holzweg. Nur keine Panik, alles halb so wild. Wir kommen da schon wieder raus. Ich setze mich wieder hinters Steuer und schalte in den ersten Gang. Langsam kommen lassen, doch es tut sich nichts, der Baumstumpf klopft erneut an, doch diesmal etwas feinfühliger. Meine Gedanken schreien, nur nicht durchdrehen und eingraben. Ich drücke den Schaltknüppel nach unten und platziere ihn im Retourgang. Das gleich Spiel. Die Kupplung kommt langsam und ich spüre wie sie Millimeter für Millimeter mehr zu greifen beginnt. Die Kraft überträgt sich auf die Hinterachse und zieht den Bulli nach hinten. Mit beiden Händen am Lenkrad kämpfe ich ohne Servolenkung gegen die Richtung, die der Waldboden mir vorgibt. Es funktioniert. Ich schalte wieder zurück in die Erste um wieder zurück in den Retourgang zu wechseln. Wir schaukeln uns raus, raus aus der Rinne, hinweg über den Baumstumpf. Minuten später haben wir uns befreit. Heilfroh und erleichtert wandert der Schalthebeln noch einmal in den Rückwärtsgang um unter größter Vorsicht den gekommenen Weg zurückzuschieben. Umdrehen ist unmöglich. Immer deutlicher ist die asphaltierte Straße in den Seitenspiegeln zu erkennen und wie ein Licht am Ende des Tunnels leitet sie mir den Weg raus aus dem Wald.
So langsam er gekommen ist, so schnell ist er vorbeigezogen. Der Moment der vollen Zehn und seiner drei anhängenden Nullen. Mein Blick wandert wieder auf die Kilometeranzeige. Zehntausend und eins. Keine besondere Zahl, fünfstellig wie jede weiter, die noch folgen wird. Doch dieser kurze Augenblick, auf der Autobahn Richtung Bilbao, hat mich innerlich mit Stolz erfüllt. Es waren so viele Stunden voller Freude und Ärgern, Lachen und Schimpfen, Singen und Schweigen, Erwartung und Frust, die wir hinter dem Lenkrad verbracht haben um genau hierher zu kommen. Ich schau in den Rückspiegel. Babsi ist vertieft in ihr Buch. Sie hat von all dem hier vorne nichts mitbekommen. Ich wende mich wieder der Straße zu, dem spanischen LKW und seinem abgeholzten Ladegut. Fünfzig Kilometer noch bis Bilbao. Fünfzig Kilometer, wie so viele andere.